Fundstelle GVBl. 2025 S. 90

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Gerichtsentscheidung

2012-1-1-I
  • Verwaltung
  • Allgemeines Verwaltungsrecht
  • Polizeirecht
  • Allgemeines Polizeirecht

Bekanntmachung
der Entscheidung des
Bayerischen Verfassungsgerichtshofs

vom 13. März 2025
Vf. 5-VIII-18; Vf. 7-VII-18; Vf. 10-VIII-18; Vf. 16-VIII-18

Gemäß Art. 25 Abs. 7 des Gesetzes über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof (VfGHG) vom 10. Mai 1990 (GVBl S. 122, BayRS 1103-1-I), das zuletzt durch § 18 des Gesetzes vom 23. Dezember 2024 (GVBl S. 605) geändert worden ist, wird nachstehend die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 13. März 2025 bekannt gemacht.

Die Entscheidung betrifft die Frage, ob

§ 1 Nr. 2 des Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017 (GVBl S. 388),

§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBI S. 301),

§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Vorschriften vom 23. Juli 2021 (GVBI S. 418)

bzw.

Art. 11 a des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 23. Juli 2024 (GVBl S. 247) geändert worden ist,

gegen die Bayerische Verfassung verstoßen.

Entscheidungsformel:

1.Das Verfahren Vf. 7-VII-18 wird im Hinblick auf Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in den bis zum 31. Juli 2021 geltenden Fassungen eingestellt.

2.Art. 11 a des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 23. Juli 2024 (GVBl S. 247) geändert worden ist, ist nur mit den Maßgaben, dass

„Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG nur terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG sind (vgl. Rn. 184 bis 187),

schwerste Grundrechtseingriffe auf Art. 11 a PAG allenfalls für eine Übergangszeit bei neuen, vom Gesetzgeber noch nicht bedachten Gefährdungslagen gestützt werden können (vgl. Rn. 191 bis 194)

und

„Maßnahmen“ im Sinn von Art. 11 a Abs. 1 PAG nur solche sind, die nicht tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen (vgl. Rn. 195 und 196),

mit der Bayerischen Verfassung vereinbar.

Im Übrigen werden die Anträge in den Verfahren Vf. 7-VII-18 und Vf. 10-VIII-18 abgewiesen.

3.Die Anträge in den Verfahren Vf. 5-VIII-18 und Vf. 16-VIII-18 werden abgewiesen.

Leitsätze:

1.Eine Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV, Art. 49 Abs. 1 VfGHG kann nachträglich um einen Antrag zu einer anderen gesetzlichen Vorschrift erweitert werden, wenn der Antragsgegner in die Antragserweiterung einwilligt oder wenn diese sachdienlich ist. Die nachträgliche Antragserweiterung muss darüber hinaus als Meinungsverschiedenheit zulässig sein. Auch für sie gilt insbesondere das Erfordernis der Rügeidentität, sodass auch insoweit die Erkennbarkeit der Meinungsverschiedenheit im Gesetzgebungsverfahren darzulegen ist.

2.Wie bei der Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV ist auch bei der Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV für eine Entscheidung über außer Kraft getretenes Recht ein öffentliches Interesse notwendig. Die Meinungsverschiedenheit ist zwar ein kontradiktorisches Verfahren zur Klärung streitiger Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zwischen Verfassungsorganen oder Teilen derselben. Es weist aber nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Popularklageverfahren auf, das von dem öffentlichen Interesse bestimmt ist, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung zu einer Gesetzesvorschrift unabhängig von der Frage der Verletzung des Antragstellers in eigenen Rechten herbeizuführen.

3.Es besteht kein öffentliches Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 PAG in den vom 1. August 2017 bis zum 31. Juli 2021 geltenden Fassungen.

4.Art. 11 a PAG, der als Generalklausel an sich eine große Bandbreite von sowohl informationellen als auch aktionellen Eingriffen in verschiedene Grundrechte ermöglicht, hat schon nach einfachrechtlicher Auslegung aufgrund der beiden in ihm enthaltenen Subsidiaritätsklauseln nur einen eingeschränkten Anwendungs- und Wirkungsbereich. Insbesondere dürfen Richtervorbehalte, denen Maßnahmen nach Art. 12 bis 65 PAG unterliegen, nicht durch einen Rückgriff auf Art. 11 a PAG unterlaufen werden. Die Vorschrift bietet auch weder eine Rechtsgrundlage für heimliche Maßnahmen noch ermöglicht sie es, für Maßnahmen unbeteiligte Dritte in Anspruch zu nehmen.

5.Art. 11 a PAG entspricht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV). Im Bereich von Vorfeldermittlungen und bei Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge muss der Gesetzgeber die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Gefahrenlage hindeuten, so bestimmt umschreiben, dass das in diesem Bereich besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss deshalb handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar zu demjenigen schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr rechtsstaatlich geboten ist. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Festlegung hinreichend bestimmter, tatsachenbasierter Mindestanforderungen für Grundrechtseingriffe im Vorfeld konkreter Gefahren wird Art. 11 a PAG gerecht.

6.Art. 11 a PAG entspricht dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) im engeren Sinn in drei Aspekten nur in einer bestimmten Auslegung, nämlich mit den folgenden Maßgaben:

  • „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG sind nur terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG;
  • schwerste Grundrechtseingriffe können auf Art. 11 a PAG allenfalls für eine Übergangszeit bei neuen, vom Gesetzgeber noch nicht bedachten Gefährdungslagen gestützt werden;
  • „Maßnahmen“ im Sinn von Art. 11 a Abs. 1 PAG sind nur solche, die nicht tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen.

7.Im Übrigen genügt die Generalklausel den verfassungsmäßigen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Gesetzgeber hat die erforderliche Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandsmerkmalen andererseits – Eingriffsschwelle, erforderliche Tatsachenbasis und Gewicht der geschützten Rechtsgüter – gewahrt. Insbesondere kann eine Absenkung der Eingriffsschwelle auf die konkretisierte oder drohende Gefahr bei Beachtung der dafür entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich bei allen Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielrichtung und damit auch im Rahmen einer Generalklausel erfolgen. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt den Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die erforderliche Tatsachenbasis der Prognose im Vorfeld konkreter Gefahren. Dem potenziell sehr hohen Eingriffsgewicht der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Maßnahmen steht mit den in Art. 11 a Abs. 2 PAG definierten bedeutenden Rechtsgütern durchgehend der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber.

München, 17. März 2025

Bayerischer Verfassungsgerichtshofs

Dr. Hans-Joachim Heßler, Präsident